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Die Mu`atazila

Schon in der Zeit der Umaiyaden begann man damit, theologische Fragen zu diskutieren. Auch Nichtmuslime hatten - sei es aus Polemik oder aus Neugier - Interesse an solchen Fragen.

Das theologische Denken und Diskutieren wird im Islam als kalam bezeichnet. Das bedeutet zunächst einmal "Rede" in der Bedeutung "Rede Gottes", "Logos", "Wort". Die Frage war nun: Wie ist das Verhältnis zwischen Gott und seinem Wort? Ist es in seinem Wesen bereits enthalten oder hat er es zur Mitteilung erst geschaffen? Die Vertreter dieses Studiums wurden als mutakallimun bezeichnet. .

Die Vorkämpfer der spekulativen Dogmatik im Islam waren die sog. Mu`tazliten. Ihr Dogma war für 22 Jahre Staatsdogma unter den abbasidischen Herrschern. .

Man befand sich in der Theologie wie auf anderen Gebieten des Denkens am Beginn einer großen Gärung, deren Hauptzentrum Basra war. Diese Stadt spielte beim Aufstieg Bagdads eine äußerst wichtige Rolle. Sie war sowohl Schmelztiegel der verschiedenen wissenschaftlichen und philosophischen Schulen als auch Wirkungsfeld mannigfaltiger religiöser Richtungen. Hier lebte Mitte des achten Jahrhunderts Hasan al-Basri, der als Vorbild für maßvolle und vernunftgemäßer Frömmigkeit angesehen wurde. Hier wurden die Probleme diskutiert, unter denen vor allem zwei immer mehr Bedeutung gewannen: die Frage, der Erschaffenheit oder Unerschaffenheit (Präexistenz) des offenbarten Gotteswortes (Gibt es Attribute, die zur Einheit der göttlichen Essenz hinzukommen?) und die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Werken vor der göttlichen Gerechtigkeit (Gibt es einen Bereich menschlicher Freiheit gegenüber der göttlichen Allmacht?)..

Die Mu`ataziliten waren strenge Denker. Im 19. Jahrhundert wurden sie als Vorläufer des Freidenkertum bezeichnet. Das ist jedoch nicht richtig. Ihnen ging es darum, die Offenbarung Gottes zu verstehen. Diese wurde als niedergelegt anerkannt. Um dieses Verständnis zu erlangen, wurde als Mittel die Vernunft eingesetzt. Ihr prägender Einfluß war genau diese Herangehensweise. .

. Als sie zu beherrschendem Einfluß gekommen waren, zeigten sie größte Intoleranz. Ihre Lehre kann wie folgt zusammengefaßt werden:.

Gott ist ewig, die Schöpfung ist etwas Erschaffenes. Der Mensch hat Willensfreiheit für sein Handeln. Der Koran ist nicht ewig, sondern geschaffen. Das Dogma von der Erschaffenheit des Koran steht im Mittelpunkt ihrer Lehre..

Gott ist Gerechtigkeit. Das Böse resultiert aus dem freien Willen des Menschen. .

Wer schwere Sünden begeht zählt als Ungläubiger. Als schlimmste Sünde wird Polytheismus oder die Infragestellung der göttlichen Einheit gewertet. Leichtere Sünden machen keine Ausstoßung aus der Gemeinschaft erforderlich..

Obwohl die Mu`tazila von Grund auf islamisch ist, untersuchten ihre bedeutendsten Lehrer auch die antike Wissenschaft und Philosophen auf gültige Erkenntnisse. Ihr Wille zum rationalen Denken und zum Studium der realen Schöpfung führte sie bald zur Auseinandersetzung mit der hellenistischen Tradition. Man fing an, in größerem Umfang griechische Philosophen zu übersetzen. Einer ihrer Initiatoren war der Kalif Ma'mun..

Ma'mun proklamierte zunächst (827), von Ibn Abi Duwad veranlaßt, das Dogma von der Erschaffenheit des Koran und führte eine Art Inquisition (Mihna) ein, um es durchzusetzen. Seine beiden Nachfolger ließen die Mihna fortsetzen, allerdings weniger aus Überzeugung, sondern um das Kalifat nicht zu schwächen. .

Im Jahre 849 setzte der Kalif al-Mutawakkil Ibn Abi Dawad ab, beendete die Mihna und bekannte sich zu dem Dogma der Unerschaffenheit des Koran. Die Herrschaft der Mu`atazila hatte 22 Jahre gedauert..

Die Bilanz dieser Ereignisse liegt weniger darin, daß eine Lehre an die Stelle einer anderen trat, sondern daß Ma'muns Plan, das Imamat zur doktrinen Führung der Gemeinschaft zu autorisieren, gescheitert war. Von nun an ist das Kalifat, was den Glauben angeht, nur noch zur Übermittlung und Ausführung des ijma` der Gelehrten befugt..