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Paulinchen (4)

Sarah fühlte sich ziemlich eingeklemmt. Sie brachte unter der Spüle einen Schlauch an, um den Druck ihrer Gasetagenheizung zu erhöhen.

Ihre zehnjährige Tochter Pauline war im Kinderzimmer und hörte unüberhörbar laut Musik. "Kel Chi Byehla Bwa'tou" (it is the right time) von Madonna. Sarah kannte das Lied bald auswendig so oft hatte Pauline es schon gehört. Diese Album der bekannten libanesischen Popsängerin erschien 1999.

Plötzlich stand Pauline in der Küche.

"Mama, was hat eigentlich den Urknall ausgelöst? War das was Übernatüliches? Und warum ist nicht einfach nichts?"

"Wieder einmal genau die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt", dachte Sarah.

"Na gut, fangen wir einmal ziemlich weit vorne an. Pauline, was sind die vier Grundkräfte?"

"Starke Wechselwirkung, schwache Wechselwirkung, eletromagnetische Kraft und Gravitation", kam es wie aus der Pistole geschossen. Wenigstens war ihre Tochter trotz Smartphone und sozialen Netzwerken noch nicht völlig verblödet.

"Und in welchem Verhätnis stehen diese Kräfte zueinander?"

Auch hier musste Pauline nicht lange überlegen. "Also wenn ich die starke Wechselwirkung als 1 ansetze, dann ist die schwache Wechselwirkung 10-15, die elektromagnetischen Kraft 10-2 und die Gravitation 10-41. Und ich habe gehört, dass wenn man diese Verhätnisse auch nur geringfügig verändern würde es unsere Welt gar nicht gäbe, weil der Urknall sich ganz anders verhalten hätte. Die Expansion wäre entweder so stark, dass sich gar keine Galaxien gebildet hätten oder alles wäre sofort wieder kollabiert."

Sarah war stolz auf ihre Tochter. "Ja, das ist richtig. Das nennt man auch anthropisches Prinzip, da die Welt so wie sie ist, die Entstehung des Kosmos und letztlich des Menschen ermöglicht hat."

"Du Mama, aber warum ist das so? Ich meine, woher wissen die Parameter, dass sie so sein müssen?"

"Vermutlich gibt es nicht nur ein Universum, sondern sehr viele. Das nennt man dann Multiversum. Nach der Stringtheorie könnte es 10500 Universen geben. Wir leben dann in einem davon. Vereinfachen wir das mal und stellen uns 1000 Universen vor. Diese nummerieren wir in Gedanken von 1 bis 1000. Nun stellen wir uns vor, dass nur in dem Universum mit der Nummer 598 Leben möglich ist. Du wirst nun einem dieser Universen geboren und stellst Dir solche Fragen wie Du sie jetzt stellst. Welche Nummer wird dieses Universum wohl haben?"

"Du meinst, ich würde in Universum Nummer 598 geboren werden? Weil es nur dort überhaupt möglich ist geboren zu werden?"

"Ganz genau. Hier greift also wieder einmal das Gesetz der großen Zahl."

"Und wie entsteht ein Universum? Aus dem Urknall? Gab es denn ganz viele Urknalle?"

"Wenn diese Theorie richtig ist dann schon. Dann entstehen vermutlich viel mehr Universen als in unserem Universum Sterne und Galaxien. Sogar viel mehr als es Teilchen in unserem Universum gibt. Aber komm bitte nicht auf die Idee, im nächsten Urlaub in ein anderes Universum zu wollen!"

"Kann ich mir also diese vielen Universen wie ganz viele Seifenblasen vorstellen, die entstehen und platzen?"

"Ja, das macht es zumindest etwas anschaulicher."

"Aber warum entsteht denn überhaupt ein Universum? Wenn so ein Universum aus dem Urknall entsteht: wie kommt es zum Urknall und warum ist nicht einfach nichts?"

"Was soll denn das Nichts sein? Was würdest Du Dir darunter vorstellen?"

"Sagen wir mal ich nehme einen Würfel, erzeuge ein ideales Vakuum. Diesen Würfel bringe ich in völlige Dunkelheit und kühle ihn auf 0 K ab. Nun habe ich keine Materie und keine Strahlung mehr. Was meinst Du?"

"Ich meine, dass Du etwas Wesentliches vergessen hast. Etwas, was Du niemals aus Deinem Würfel entfernen kannst."

"Was soll denn das sein? Was soll es denn sonst noch geben außer Energie und Materie? Das habe ich doch komplett entfernt."

"Die Naturgesetze. Du wirst die Naturgesetze niemals los. Und die besagen, dass es Wertepaare gibt, die man niemals gleichzeitig beliebig genau bestimmen kann. Dazu gehören der Impuls und der Ort sowie die Energie und die Zeit."

"Na gut. Dann kann man halt nicht alles genau bestimmen. Aber was hat das mit meiner Frage zu tun? Worauf willst Du hinaus?"

"Zunächst einmal darauf, dass Du das, was Du schaffen wolltest - nämlich einen dauerhaften Zustand mit einer Energie von Null - eben nicht erschaffen kannst: die Naturgesetze zwingen Dich zumindest von einer Schwankung der Energie um die Null-Linie herum auszugehen, da Energie und Zeit eben genau ein solches Wertepaar darstellt, was nicht gleichzeitig einen bestimmten Wert haben kann. Wenn Du also ein beliebig kleines Zeitintervall betrachtest, dann ist die Schwankungsbreite, die die zugehörige Energie haben kann umso größer je kleiner das Intervall ist."

"Du meinst das Nichts schwankt?"

"Genau. Es leiht sich Energie gewissermaßen aus dem Nichts und es entstehen spontan Teilchen-Antiteilchen Paare. Diese zerstrahlen dann wieder und geben die geliehene Energie dem Nichts zurück."

"Du meinst es gibt gar kein Nichts?"

"Richtig. Was es gibt ist das sogenannte Quantenvakuum. Und aus diesem ist der Urknall entstanden."

"Wie soll das denn gehen?"

"Die Schwankungen, die ich eben beschrieben haben nennt man Quantenfluktuation. Da sie wie ich eben sagte auf ein Naturgesetz zurück gehen, lässt sich das nicht abschalten. Wenn wir nun etwas Energie erhalten indem wir sie uns vom Nichts leihen, dann übt das Nichts bildlich gesprochen einen Druck aus. Das Verrückte ist nun, dass dieser Druck nun nicht etwa kleiner wird wenn wir das Volumen unseres Würfels verdoppeln. Bei Gasen wäre nämlich genau das der Fall. Das Nichts übt nun einen negativen Druck aus - einen Sog also. Nach der allgemeine Relativitästheorie wirkt positive Energie gravitativ anziehend. Dieser Sog, diese negative Energie also, die das Nichts auf uns ausübt wirkt gravitativ abstoßend."

"Du meinst es kam zu einer Abstoßung, die den Urknall ausgelöst hat?"

"Ja, aber hierzu musste das Nichts in einen falschen Zustand mit positiver Energie gelangen. Und es spielt ein Begriff eine Rolle, den wir uns aus alltäglicher Erfahrung klar machen können: den Phasenübergang. Wenn Wasserdampf zu flüssigem Wasser wird bzw. Wasser zu Eis kondensiert, dann ist das ein Phasenübergang. Dabei kommt es zu sog. Symmetriebrüchen: im Wasserdampf haben die Wassermoleküle die Möglichkeit sich in alle Raumrichtungen beliebig zu bewegen. Das geht in flüssigem Wasser nicht mehr und im Eis noch weniger. Bei einem solchen Phasenübergang wird Energie frei. In diesem Beispiel Kondensations- bzw. Kristallisationswärme. Wenn das Nichts nun zu einer Abstoßung führt bei der es zu einem Phasenübergang kommt, der soviel Energie freisetzt, dass wir dem Nichts den Überbrückungskredit zurückzahlen können, dann könnte genau das den Urknall bewirkt haben. Hierbei kommt es zu einem sich selbst verstärkenden Prozess aus einem sog. Inflationsfeld. Das Universum hat sich dann in 10-30s um den Faktor 1050 aufgebläht."

"Das erinnert mich an die Europäische Zentralbank. Die druckt auch Geld aus dem Nichts, für das es keinen Gegenwert gibt. Deswegen nennt man Währungen wie den Euro auch Fiat-Geld. Geld, das einfach nur da ist, weil es gedruckt wird. Das hatten wir neulich in der Schule. Daher investieren jetzt viele Menschen in Bitcoin. Den kann man nicht einfach drucken wie es einem gerade passt. Aber wie kann sich das Universum so schnell aufgebläht haben? Widerspricht das nicht auch einem Naturgesetz? Es kann doch nichts schneller sein als das Licht. Und diese Expansion ist doch viel schneller."

"Diese Expansion ist in der Tat sehr viel schneller als die Lichtgeschwindigkeit. Allerdings besagt das Naturgesetz nur, dass sich nichts schneller im Raum ausbreiten kann als das Licht. Beim Urknall flog aber nicht etwas durch den Raum sondern der Raum selbst wurde größer. Und dafür gibt es keine Geschwindigkeitsgrenze."

"Dann hat sich der Urknall also durch eine Gesetzeslücke gemogelt? Und mit dem Urknall entstand auch die Materie?"

"Ja, allerdings ist fast alles wieder zerstrahlt. Eigentlich würde man erwarten, dass Materie und Antimaterie entsteht und dann Teilchen und Antiteilchen wieder zerstrahlen. Allerdings entstanden auf 10 Milliarden Antiteilchen 10 Milliarden und ein Teilchen. Von 20 Milliarden Antiteilchen bzw. Teilchen blieb also ein Teilchen übrig. Das könnte mit einem Symmetriebruch der schwachen Wechselwirkung zusammenhängen."

"Das heißt also, dass die gesamte Materie, die wir im Universum haben nur ein winzig kleiner Rest ist? Das hätte ich nicht gedacht. Aber woher kommen die Grundkräfte?"

"Starke und schwache Wechselwirkung und die elektromagnetische Kraft waren zu Anfang eins. Man spricht hier von einer gezippten Kraft oder auch GUT-Kraft (Grand Unified Theory). Ob auch die Gravitation Bestandteil dieser vereinten Kraft war, weiß man bis heute nicht."

"Was ist eigentlich mit der Entropie? Müsste die nicht zu Anfang maximal gewesen sein? Dann hätte doch niemals Ordnung entstehen können, weil das den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik verletzen würde."

"Du hast Recht. Wir brauchen schon wieder einen Kredit, den wir bezahlen müssen. Aber dafür haben wir einen Joker in der Tasche. Nach dem Urknall hatten wir 1080 Teilchen. Dadurch ist die Entropie enorm gestiegen."

"Das meine ich ja. Wir haben ein nun ein völliges Drucheinander an Teilchen und somit die maximale Entropie."

"Mein Joker besteht auch nicht allein aus den Teilchen. Wir haben ja noch die Gravitation. Was passiert wenn Du Teilchen der Gravitation aussetzt? Schau Dir das Universum an: Du hast Sterne, Galaxien, Galaxienhaufen und Galaxiensuperhaufen. Also Verklumpungen von Materie auf mehreren Ebenen. Das ist maximale Entropie unter dem Einfluss von Gravitation. Umgekehrt bedeutet das: sobald Du einen riesgen Haufen gleichverteilter Materie hast und zusätzlich Gravitation hast Du einen Zustand erniedrigter Entropie, von dem Du lange zehren kannst. Bei 1080 Teilchen sogar ziemlich lange."

"Das heißt also durch die homogene Verteilung der Materie beim Urknall wurde die Entropie erniedrigt statt erhöht? Das ist ja echt irre!"

"Ja, aber genau so ist es. An dieser Stelle wurde gewissermaßen die Uhr aufgezogen. Von da an konnte die Entropie nur noch erhöht werden. Damit bekam die Welt einen Zeitpfeil. Es geht immer nur in eine Richtung: nämlich in einen Zustand höherer Entropie."

"Dann war der Urknall also gar nichts Übernatürliches?"

Sarah nahm ihre Tochter in den Arm.

"Der Urknall war ein rein physikalisches Phänomen."

 


31.12.2015, Frank Ansari