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Paulinchen (3)

Sarah schaute an ihre Wohnzimmerdecke. Es half alles nichts. Hier musste sie mit Moltofill und Wandfarbe zu Werke gehen, um etwas auszubessern.

Aus dem Kinderzimmer ihrer neunjährigen Tochter Pauline erklang das Lied "El Deni Em" (a mother is the whole world) von Najwa Karam. "Ein trauriges Lied" dachte sie. "Ob Pauline das versteht?"

Während Sarah auf der Leiter stand und die Zimmerdecke mit Putz ausbesserte öffnete sich die Tür des Kinderzimmers.

Pauline hatte ihren Onkel August besucht, der gerade eine Reise in die USA gemacht und sich nun zu einem Anhänger der Intelligent Design Bewegung gewandelt hat.

"Mama, Onkel August hat gesagt, dass das Leben auf der Erde planvoll und intelligent gestaltet ist und dass das mit der Evolution alles Quatsch ist."

Sarah stand mit einer Mütze auf dem Kopf und einem Spachtel in der Hand auf ihrer Trittleiter. Sie hatte zwar nicht den Eindruck, dass dies der ideale Zeitpunkt ist, um ihrer Tochter die Welt zu erklären - aber was sollte sie machen?

"Pauline, das Leben auf der Erde ist aus unserer Sicht ganz sicher ein Wunder. Aber eines solltest du dir merken: Lebewesen sind keine Artefakte."

"Mama, was ist ein Artefakt? Ist das was Kompliziertes?"

"Artefakte sind Dinge, die sich jemand ausdenkt." Sie schaute zum Computermonitor. "Dieser Monitor von deinem PC - das ist ein Artefakt. Jemand hat es sich ausgedacht und aus einzelnen Teilen zusammengebaut. Dein Monitor funktioniert erst wenn alle Teile richtig zusammengesetzt sind."

"Was ist denn bei Lebewesen anders? Bestehen die nicht auch aus vielen Teilen?"

"Das tun sie. Und sie sind sogar noch weitaus komplizierter als alle Artefakte. Aber sie sind eben keine Artefakte. Lebewesen wachsen. Und sie pflanzen sich fort. Dabei sind die Nachkommen ihren Eltern sehr ähnlich - aber nie ganz genau gleich."

"Aber was hat das alles mit der Frage nach dem Design zu tun?"

"Lebewesen tun noch etwas: sie sterben. Außerdem haben sie mehr Nachkommen als schließlich überleben. Daraus ergibt sich etwas, was wir Selektion nennen: die Nachkommen, die am besten geeignet sind überleben. Zumindest in der Regel."

"Na gut. Und was ist damit gewonnen?"

"Dadurch dass die Nachkommen den Eltern nie genau gleichen, sondern zufällige Änderungen haben, gibt es auf lange Sicht so große Veränderungen, dass man den Eindruck hat, hier seie etwas geplant worden. Das ist aber gar nicht der Fall."

"Können denn die Lebewesen trotz dieser Veränderungen überleben?"

"In vielen Fällen haben die Änderungen keine Auswirkungen, in manchen Fällen sind sie sogar tödlich. Aber manche stellen sich als vorteilhaft heraus. Und diese Lebewesen haben dann mehr Nachkommen."

"Dann müsste man doch diese Veränderungen irgendwie bemerken. Und noch etwas ist mir unklar: wie kann denn alles über kleine Veränderungen entstehen?"

"Das ist genau der Punkt: es kann eben nicht alles über kleine Veränderungen entstehen. Sehen wir uns nochmal deinen Monitor an: das ist ein sogenannter TFT Monitor, der mit Flüssigkristallen arbeitet. Früher gab es Röhrenmonitore mit Kathodenstrahl. Du kannst nicht einen Kathodenstrahlmonitor in kleinen Schritten zu einem TFT Monitor umbauen. Das Funktionsprinzip ist völlig unterschiedlich."

"Dann würde man ja in einer Sackgasse stecken. Was bedeutet das denn?"

"Das bedeutet, dass genau so etwas in der Natur eben unmöglich ist. Wenn man - im Bild gesprochen - einen Röhrenmonitor hat dann wird die nächste Generation eben wieder ein Röhrenmonitor sein - wenn vielleicht auch ein etwas besserer. Das heißt nicht, dass TFT Monitore ausgeschlossen wären - sie könnten sich aus Geräten entwickeln, die bereits das Funktionsprinzip einer Flüssigkeitskristallanzeige realisiert haben und momentan noch einem anderen Zweck dienen."

"Gibt es bei den Lebewesen dafür Beispiele?"

"Jede Menge. Ein berühmtes Beispiel sind unsere Ohren. Die Gehörknöchelchen haben sich aus Kieferknochen entwickelt. Oder Federn, die einst der Wärmeisolation dienten wurden später zum Fliegen genutzt."

"Bleibt denn bei diesen ganzen Umbauten nichts übrig, was hinterher nicht mehr gebraucht wird? Das kann ich mir kaum vorstellen."

"Du hast Recht. Genau das passiert. Besonders bei der Embryonalentwicklung kann auf stammesgeschichtlich ältere Entwicklungspfade nicht verzichtet werden. So bilden Küken Zähne bei der Embryonalentwicklung aus, die später wieder zurückgebildet werden. Vögel stammen nämlich von Dinosauriern ab - und die hatten Zähne. Wale sind Nachfahren von Tieren, die einst an Land lebten. So wundert es nicht, dass sie bei ihrer Embryonalentwicklung Beine ausbilden. Die erwachsenen Tiere brauchen diese Organe nicht mehr - aber die Embryonalentwicklung würde durcheinander geraten wenn diese Anlagen gar nicht mehr da wären."

"Und sieht man auch den erwachsenen Tieren die Umbauarbeiten an?"

"Allerdings. Zum Beispiel der rückläufige Kehlkopfnerv. Er läuft vom Hirn durch die Brust, umläuft den Aortenbogen und geht dann wieder hinauf zum Hals bis zum Kehlkopf. Diese eigentlich unsinnige Konstruktion ist rein historisch. Sie geht auf die Fische zurück, aus denen sich alle Landlebewesen entwickelt haben. Fische haben keinen Hals. Bei ihnen ist der Verlauf dieses Nervs völlig sinnvoll. Bei der Giraffe macht sie einen meterlangen Umweg durch den Körper. Das ist nicht nur Ressourcenverschwendung sondern führt auch zu erheblicher Signalverzögerung.

"Das ist ja ein Ding. Und das wurde nie mehr korrigiert?"

"Nein, das ist nicht möglich. Der Aufwand würde sich nicht lohnen und wäre lebensgefährlich. Es gibt noch ein ähnliches Beispiel im menschlichen Körper: der Verlauf des Samenleiters beim Mann. Beim Fisch liegen die Keimdrüsen in der Nähe des Herzens. Bei Landtieren sind sie nach unten gewandert. Dabei haben sie sich gewissermaßen verheddert: sie haben den Harnleiter umschlossen. Obwohl Penis und Hodensäcke unmittelbar nebeneinander liegen muss der Samenleiter nun einen Umweg durch den Unterleib machen. Eine Folge dieser historisch bedingten Konstruktion ist, dass Männer anfällig für Leistenbrüche sind."

"Das wirkt ja alles nicht sehr planvoll. Eher etwas wie Bastelei. Und die Männer müssen darunter leiden."

"Nicht nur die Männer. Wir Frauen kommen da auch nicht zu kurz. Mit der Entstehung des aufrechten Gangs wurde das Becken kleiner. Zusätzlich wurde das Gehirn bei der Gattung Homo größer. Unser heutiges Gehirn hat etwa das dreifache Volumen unserer nächsten noch lebenden Verwandten - den Schimpansen. Dadurch wurde der Geburtsvorgang an seine Grenzen gebracht und ist sehr schmerzhaft. Um die Geburt überhaupt noch zu ermöglichen, kommt das Baby mit unfertigem Gehirn zur Welt. Das Gehirn wächst erst nach der Geburt auf seine eigentliche Größe heran."

"Krass."

"Egal ob wir die Embryonalentwicklung oder die Stammesgeschichte betrachten: das Lebewesen muss zu jedem Zeitpunkt funktionstüchtig sein. Das ist ein völlig anderes Konzept als ein Artefakt. Trotz allem: die Ergebnisse der Evolution sind nicht schlecht. Alles in allem funktionieren die Lebewesen doch ganz gut. Aber dass sie nicht am Reißbrett entworfen sind, das sieht man ihnen an. Lebewesen können niemals wegen Umbaus schließen. Einmal eingschlagene Wege lassen sich oft nicht mehr zurück nehmen. Das nennt man auch Bebürdung."

Pauline sah ihre Mutter nachdenklich an.

"Und daran, dass Lebewesen Nachkommen brauchen um zu überleben wird sich wohl auch nichts mehr ändern lassen. Mama, bin ich dann auch eine Bürde?"

Sarah nahm ihre Tochter in den Arm und küsste sie.

"Ja, aber eine sehr angenehme", dachte sie.

 


31.12.2014, Frank Ansari