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Paulinchen (2)

Sarah beugte sich mit ihren gelben Haushaltshandschuhen über das Waschbecken des Badezimmers. "Immer diese Haare", dachte sie ärgerlich. Unter dem Waschbecken stand ein Eimer, in den sich nun eine stinkende Brühe ergoss. Auf dem Fußboden lag die Rohrzange.

Ihre inzwischen achtjärhrige Tochter Pauline war in ihrem Kinderzimmer und hörte Musik. Seit einiger Zeit hörte sie nur noch arabische Popmusik. Sarah erkannte das Lied, was sie gerade hörte: Akhidni Maak (take me with you) - ein Duett zwischen Fadl Shaker und Yara aus dem Libanon. Pauline liebte dieses Lied und hörte es dementsprechend oft. Es war das letzte Lied auf Fadl Shakers Album Allah Alam (God knows).

Sarah hatte sich inzwischen an diese Modeerscheinung gewöhnt. Sie hatte als junges Mädchen zwar hauptsächlich englische Musik gehört - aber die Zeiten ändern sich eben.

Pauline hatte das Wochenende bei ihrem Onkel August verbracht. Sie war immer noch ganz aufgeregt von der Reise. Auf der anderen Seite wirkte sie seitdem auch etwas nachdenklich.

Sie lief zu ihrer Mutter.

"Mama, der Onkel August hat gesagt, das Klima ist gefährdet. In der gesamten Geschichte war es noch nie so warm wie heute. Es würde immer wärmer werden und die Meeresspiegel würden immer weiter ansteigen. Außerdem ist CO2 ein ganz böser Klimakiller. Stimmt das?"

Während Sarah den Dichtungsring einsetzte holte sie tief Luft. Sie kannte die Fähigkeit ihrer Tochter, im geeigneten Moment die richtigen Fragen zu stellen.

"Warum willst du das denn ausgerechnet jetzt wissen? Das lernst du noch früh genug", antwortete Sarah ziemlich genervt.

"Aber Mama, kannst du mir nicht ganz kurz etwas dazu sagen?" fragte ihrer Tochter.

"Na gut", dachte Sarah während sie das Abflussrohr zusammenschraubte. "Dann ist wohl heute dieses Thema dran."

"Pauline, woraus besteht Dein Köper?"

"Na, ich denke im Wesentlichen aus Wasser und Proteinen."

"OK. Proteine sind organisches Material. Weißt du noch welches chemische Element wir brauchen, um das aufzubauen?"

"Klar. Kohlenstoff."

"Gut. Und woher bekommst du den Kohlenstoff?"

"Ganz einfach: aus dem, was ich esse."

"Richtig. Und wie kommt der Kohlenstoff z.B. in den Fisch, den du isst?"

"Gute Frage, Mama. Ich hab's: der Fisch muss ja auch etwas essen. Der Kohlenstoff ist auch in seinem Essen."

"Du meinst das Spiel geht immer so weiter? Nehmen wir an, das letzte Tier dieser Nahrungskette isst Algen. Woher bekommen nun die Algen ihren Kohlenstoff?"

"Ach so - natürlich, das hattest du mir ja schon mal erklärt: durch die Photosynthese: sie benötigen dafür Kohlendioxid."

"Sehr gut. Und was sagt dir das?"

"Wenn es kein CO2 gäbe, würden die Pflanzen verhungern."

"Und weiter? Was würde dann passieren?"

"Dann würden auch alle Tiere verhungern, die diese Pflanzen fressen. Und dann würden alle Tiere verhungern, die wiederum diese Tiere fressen. Dann würden also auch wir Menschen verhungern?"

"Richtig. Das Gas, das Onkel August einen Klimakiller nannte, hält in Wirklichkeit alles am Leben. Ohne Kohlendioxid müssten wir verhungern."

"Das ist ja echt ein Ding. Und stimmt es, dass die Temperaturen noch nie so hoch waren wie heute?"

"Pauline, der Mensch hat die normale Temperatur auf der Erde nie miterlebt. Dazu sind wir erst zu kurz hier."

"Wie meinst du das?"

"Sieh mal: wenn wir uns die letzten 600 Mio Jahre ansehen, dann stellen wir fest, dass die mittlere Temperatur auf der Erde meistens bei ca. 22°C lag. Das lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden rekonstruieren. Dazwischen gab es immer wieder Kaltphasen, in denen es 10°C kälter war. Diese Phasen traten etwa alle 150 Mio Jahre auf."

"Warum wird es denn alle 150 Mio Jahre kälter?"

"Du erinnerst dich doch noch an die Spiralgalaxien, nicht wahr?"

"Ja, wir leben in einer solchen Spiralgalaxie - in der Milchstraße."

"Man vermutet nun, dass es immer dann anfängt kälter zu werden, wenn unser Sonnensystem in einen Arm der Galaxie eintritt. Dann nämlich treffen uns viele H+-Ionen, die zu stärkerer Wolkenbildung führen. Das wiederum kühlt die Erde ab."

"Und in was für einer Zeit leben wir jetzt?"

"Wir leben heute in einer Eiszeit. Vor 50 Mio Jahren hatte Europa subtropisches Klima. Vor ca. 40 Mio Jahren fing es langsam an, kühler zu werden. Vor 8 Mio Jahren war Afrika noch mit Regenwald bedeckt. Unsere Vorfahren - affenartige Wesen - lebten dort. Als es kühler wurde, nahm der Regenwald ab. Savannen entstanden. Vermutlich waren diese Veränderungen der Grund dafür, dass unsere Vorfahren den aufrechten Gang entwickelten. Sie mussten sich an die neuen Lebensbedingungen anpassen. Bereits die Australopithecinen, die vor 4 Mio Jahren lebten, konnten aufrecht gehen."

"Was ist danach passiert?"

"Vor 2,5 Mio Jahren wurden die Lebensbedingungen dramatisch schlechter. Für die Australopithecinen galt es nun, einen Weg zum Überleben zu finden. Dazu gab es verschiedene Möglichkeiten: eine Gruppe entwickelte riesengroße Zähne: viermal so große wie heutige Menschen. Das war der Paranothropos Boisei (auch Nussknackermensch genannt). Eine andere Gruppe entwickelte ein größeres Gehirn: die Gattung Homo war geboren."

"Das sind unsere Vorfahren, nicht wahr?"

"Genau. Du siehst also, dass es uns Menschen ohne diese Klimaveränderungen gar nicht geben würde. Die letzten 2,5 Mio Jahre sind das eigentliche heutige Eiszeitalter. Das ist die Zeit, in der wir uns zu dem entwickelt haben, was wir heute sind. Aber innerhalb dieser Zeit gab es mehrere Schwankungen."

"Tatsächlich?"

"Ja. Es gibt Kaltzeiten und Warmzeiten innerhalb der Eiszeit. Natürlich ist eine solche Warmzeit nicht so warm wie normalerweise in der Erdgschichte. Aber eben deutlich wärmer als in einer Kaltzeit. Vor 60.000 Jahren lag die durchschnittliche Temperatur bei uns im Juli bei 5°C und im Januar bei -27°C."

"So kalt? Wie konnte man denn da leben?"

"Damals lebte eine Menschenart hier, von der du bestimmt schon gehört hast: der Neandertaler. Er hatte sich an dieses Klima angepasst und konnte darin überleben. Damals lebten auch viele große Tiere hier: wie Mammuts, Wollnashörner, Riesenhirsche oder Höhlenlöwen. Diese Tiere sind heute ausgestorben. Zu dieser Zeit lag Norddeutschland unter einem Gletscherpanzer. Riesige Eismassen drangen von Skandinavien her vor. Dabei wurde viel Geröll mitgeschoben - unter anderem auch große Steine, die man heute als sogenannte Findlinge in der Landschaft findet. Zum Teil hat man sie zum Bau von Gräbern verwendet."

"Und wann wurde es wieder warm?"

"Vor 370.000 - 347.000 Jahren war die Holstein-Warmzeit. Danach kam die Saale-Kaltzeit. Die ging bis vor 126.000 Jahren. Dann wurde es wärmer. Die Warmzeit, die dann kam, nennt man das Eem. Sie endete vor 115.000 Jahren. Dann wurde es wieder kälter. Diese Kaltzeit nennt man die Weichsel-Kaltzeit. Sie endete vor 10.000 Jahren. Dann wurde es wieder wämer. Die Übergangszeit von vor 13.000 Jahren bis vor 10.200 Jahren nennt man Dryas. Die Zeit von da an bis heute nennt man Holozän."

"Das ging ja ständig rauf und runter. Warum eigentlich?"

"Mit Sicherheit kann das natürlich niemand sagen. Aber auch hierfür gibt es eine Theorie: die Erdbahnparameter schwanken leicht. Zum einen schwankt die Form der Erdbahn um die Sonne alle 100.000 Jahre zwischen stärker elliptisch und fast kreisförmig. Dazu kommt, dass die Erdachse wie der Griff eines Kreisels alle 25.000 Jahre einen Kreis beschreibt. Außerdem schwankt der Winkel zwischen Erdachse und Erdumlaufbahn alle 40.000 Jahre zwischen 21,8 und 24,5 Grad. Diese Effekte können sich gegenseitig aufheben oder verstärken."

"Heißt das, dass die Temperatur jetzt auch schwankt?"

"Richtig, selbst innerhalb des Holozäns gibt es Schwankungen. Die mittlere Temperatur beträgt auf der Erde in dieser Zeit etwa 15°C. Von ca. 1350 - 1850 war es in Nordeuropa 1°C kälter - was sich stark bemerkbar machte: in den Niederlanden froren die Kanäle im Winter zu."

"Und was war eigentlich mit dem Meeresspiegel?"

"97% allen Wassers auf der Erde ist in den Ozeanen. Von dem ganzen Rest sind 80% in Gletschern gebunden. Nach dem Abschmelzen der Gletscher nach der letzten Eiszeit hob sich der Meeresspiegel der Weltmeere um etwa 100 Meter. Der Meeresspiegel steigt nicht ständig sondern schwankt innerhalb der Erdgeschichte."

"Wie wird es denn nun weitergehen?"

"Zunächst einmal befinden wir uns immernoch in einer Eiszeit. Zeitabschnitte bei denen die Pole nicht eisfrei sind, werden so bezeichnet. Es gibt auch die Vermutung, dass die Eiszeit solange anhält wie sich die Antarktis am Südpol befindet. Denn wenn sich Landmassen in Polnähe befinden, dann führt das leicht zur Bildung von Gletschern. Aber wie gesagt: im Moment befinden wir uns in einer Warmzeit innerhalb einer Eiszeit. Aber irgendwann kommt dann die nächste Kaltzeit. Niemand weiß ob dass schon in 1.000 Jahren oder erst in 50.000 Jahren passiert."

"Und die nächste Kaltzeit dauert dann wieder 100.000 Jahre?"

"Genau weiß das natürlich niemand. Aber erfahrungsgemäß ja. Zumindest war das die letzten 700.000 Jahre immer so. Aber von vor 2,7 Mio Jahren bis vor 700.000 Jahren betrug ein Zyklus nur 40.000 Jahre. Warum es zu diesem Wechsel kam, ist unbekannt. "

"Dann wird es also wieder 100.000 Jahre lang richtig kalt? Und alle reden immer von der globalen Erwärmung! Geht denn diese Eiszeit nie zu Ende?"

"Natürlich endet sie irgendwann. Momentan befinden wir uns gerade im Orion-Arm unserer Galaxie. Wenn wir den verlassen, wird die Erde auch wieder zu ihrer normalen Temperatur zurückkehren. In ein paar Millionen Jahren könnte Deutschland also wieder subtropisches Klima haben."

Sarah goss das Dreckwasser weg und wischte den Boden auf. Sie brachte die Rohrzange weg, zog sich die Handschuhe aus und machte sich gründlich sauber. "Immer diese Haare", dachte sie.

Dann ging sie mit ihrer Tochter ins Wohnzimmer. Pauline sah ihre Mutter an und fragte:

"Müssen wir also nichts gegen die globale Erwärmung tun?"

Sarah lächelte und nahm ihre Tochter in den Arm.

"Gegen die globale Erwärmung vielleicht nicht", dachte sie "aber vielleicht gegen die globale Verdummung."

 


31.12.2007, Frank Ansari