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Paulinchen (1)

Sarah saß unter dem Spülbecken und machte sich gerade daran, die Heizung mit neuem Wasser zu versorgen. Sie suchte die Rohrzange, um die Ventile aufzuschrauben. Ihre siebenjährige Tochter Pauline spielte im Kinderzimmer.

"Pauline? Wo ist unsere Rohrzange?", fragte Sarah ihre Tochter.

"Entschuldigung, Mama. Die habe ich unter dem Regal liegengelassen. Hier ist sie."

"Danke", antwortete Sarah und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Sarah und ihre Tochter lebten allein. Paulines Vater hatte die beiden verlassen, als sie zwei Jahre alt war.

Heute Abend musste Sarah dringend weg. Sie konnte ihre Tochter nicht mitnehmen sondern verließ sich darauf, dass sie ein paar Stunden allein bleiben könnte ohne etwas anzustellen.

"Paulinchen, du weißt, was ich dir gesagt habe? Öffne bitte keinem Fremden die Tür!"

"Kein Problem", antwortete Pauline. "Wer sollte heute Abend auch schon kommen?"

Aus Paulines Kinderzimmer drang die Stimme von Nancy Ajram, einer Popsängerin aus dem Libanon. Eine libanesische Schulfreundin hatte ihr eine CD von ihr mitgebracht. Seitdem war Nancy Paulines Lieblingssängerin.

Sarah umarmte ihre Tochter zum Abschied. Nun war Paulinchen allein zu Haus.

Die beiden Katzen lagen friedlich im Wohnzimmer und genossen den Sommerabend. Während Nancys Musik noch immer zu hören war, ging Paulinchen ins Wohnzimmer ans Fenster und beobachtete den Sternenhimmel.

"Mama macht sich immer zu viele Sorgen", dachte Pauline. "Heute Abend wird es bestimmt ganz ruhig."

"Die Sterne sehen ja echt toll aus. Ich weiß, dass viele Leute an Horoskope glauben. Ob da wohl was dran ist? Welche Bedeutung haben wohl die Sterne?"

Während sie so überlegte, verging die Zeit schneller als sie ahnte. Zwischendurch rannten die Katzen hin und her.

Plötzlich hörte sie etwas an der Tür.

"Hallo, mein Schatz. Alles klar?"

"Ja, Mama. Es ist niemand gekommen. Und angestellt habe ich auch nichts."

"Prima", antwortete ihre Mutter. "Dann ist ja alles gut gegangen."

"Du, Mama, glaubst du eigentlich an Horoskope?"

"Nein, mein Kind. An so etwas glaube ich nicht. Wie kommst du darauf? "

"Na, weißt du, in so vielen Zeitschriften gibt es die doch. Und du glaubst nicht daran?"

"Aber Kind, das ist doch alles Unsinn. Die Formulierungen in den Zeitschriften sind doch extra so gemacht, dass sie auf jeden zutreffen könnten. Und außerdem: viele der Sterne, die du am Himmel beobachten kannst, existieren schon gar nicht mehr."

"Mama, das klingt ja alles sehr interessant. Wenn die Sterne nicht für die Horoskope sind, wofür sind sie dann? Was sind Sterne? Weißt du, ich habe heute als du weg warst die Sterne beobachtet. Das sieht schon sehr beeindruckend aus. Was bedeuten die Sterne?"

"Paulinchen, willst du das jetzt wirklich wissen?", fragte Sarah ihre Tochter etwas genervt.

"Mama, ich will es jetzt wissen. Was sind diese Sterne?"

Auf diese Frage war Sarah nicht vorbereitet bzw. hatte gehofft, dass sie nicht so schnell kommt. "Soll ich mein Kind wirklich über die Sterne aufklären?" fragte sie sich.

"Na gut", antwortete Sarah. "Wenn du es wirklich wissen willst... Du erinnerst dich doch sicher, dass ich dir schon mal unser Planetensystem erklärt habe, nicht wahr? Die Sonne in der Mitte und darum kreisen die Planten - an dritter Position von innen unsere Erde."

"Ja, Mama. Daran kann ich mich gut erinnern. Und um unsere Erde kreist der Mond. Das hattest du mir auch gesagt."

"Pauline: das erste, was du verstehen musst: all das, was da oben ist, ist unvorstellbar groß. Das Licht legt 300.000 km/s zurück. Das ist eine Strecke wie siebeneinhalb mal um die gesamte Erde. Stell dir das mal in einer Sekunde vor. Allein die Entfernung bis zur Sonne ist so groß, dass das Licht 8 Minuten braucht. Das heißt du siehst die Sonne immer so wie sie vor 8 Minuten war."

"Mama, aber du hast mir doch gesagt, dass man nicht in die Sonne gucken soll, schon gar nicht bei einer Sonnenfinsternis, weil man sonst blind wird."

"Du hast Recht. Aber nun kommt das Entscheidende: fast jeder Stern, den du siehst, ist nichts anderes als eine Sonne. Nur dass sie so weit weg sind, dass sie aussehen wie kleine Punkte am Himmel."

"Die Sterne sind Sonnen?"

"Ja. Oder wir können es auch umgekehrt ausdrücken: unsere Sonne ist ein Stern."

"Du Mama, wo kommen denn all diese Sonnen - oder diese Sterne - her?"

"Mit Sternen ist es wie mit Menschen: sie werden geboren."

"Was sagst du? Haben Sterne denn auch Mütter?"

"Nein", entgegnete Sarah. "Sterne werden in gigantischen Gasnebeln geboren. Stell dir vor, im Universum gibt es riesige Mengen von Gas, zum Beispiel Wasserstoff. Du kennst die Gravitationskraft auf der Erde: was du hochwirfst, fällt runter. Die Erde hat eine große Masse und zieht daher alles an. Im Universum spielt die Gravitation eine entscheidende Rolle: wenn sich Gaswolken verdichten und immer schwerer werden ziehen sie immer mehr Materie an sich. Schließlich wird die Gravitation so stark, dass der Wasserstoff eine Kernfusion beginnt und zu Helium verbrennt: ein neuer Stern ist geboren. Dieser Vorgang setzt so viel Energie frei, dass er einem weiteren Kollaps der Materie durch die Gravitation entgegenwirkt."

"So entstehen also Sterne? Der Stern brennt also wie eine Kerze? Du Mama, aber jede Kerze geht doch auch mal aus. Wie lange brennt denn so ein Stern?"

"Das hängt von seiner Größe ab. Sterne, die so groß sind wie unsere Sonne brennen etwa 10 Milliarden Jahre. Wenn ein Stern aber 10 mal größer ist, ist sein Brennstoff schon nach 20 Millionen Jahre verbraucht."

"Aber wir brauchen doch unsere Sonne, oder?"

"Ja. Ohne sie gäbe es hier kein Leben. Die Sonne liefert die Energie für das Wachstum der Pflanzen. Die Pflanzen wiederum produzieren den Sauerstoff, den wir atmen. Ohne die Sonne würden wir also nicht nur erfrieren sondern auch verhungern und ersticken.

"Wieviel Zeit bleibt uns dann noch?"

"Die Sonne existiert seit 4,5 Milliarden Jahren und hat noch ca. weitere 5 Milliarden Jahre vor sich. Das heißt aber nicht, dass wir noch so lange Zeit haben. Die Sonne wird immer heißer werden und sich schließlich zu einem Roten Riesen aufblähen. Dieser wird dann Teile seiner Hülle abstoßen und zu einem planetarischen Nebel werden. Der schrumpft dann um 99% und wird zu einem Weißen Zwerg. Bevor die Sonne sich allerdings zu einem Roten Riesen aufgebläht hat, wird das Leben auf der Erde schon lange erloschen sein. Die große Hitze wird vorher die Ozeane verdampfen lassen. Aber etwa eine Milliarde Jahre bleiben uns bestimmt noch."

"Prima, dann kann ich ja nächste Woche noch zum Geburtstag meiner Freundin gehen. Du Mama, was ist eigentlich die Milchstraße? Ist das ein großer, länglicher Stern?"

"Nicht ganz. Die Milchstraße ist eine große Ansammlung von Sternen - und zwar die, in der wir leben. Sie besteht aus ca. 100 Milliarden Sternen. Der nächste Stern ist der Alpha Centauri. Er ist 4,3 Lichtjahre entfernt. Ein Lichtjahr ist die unvorstellbar große Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Da das Universum riesengroß ist, ist das sozusagen die nächste Nachbarschaft. Der Alpha Centauri besteht aber aus drei Sternen. Er sieht nur von weitem so aus wie einer. Neben der Milchstraße gibt es noch ein paar andere Galaxien (wie die Andromeda-Galaxie, die kleine und große Magellansche Wolke), die unsere sogenannte Lokale Gruppe bilden. Solche Galaxienhaufen wiederum sind ebenfalls zu noch größeren Haufen gebündelt: den Superhaufen. Unsere Lokale Gruppe liegt im Virgo-Superhaufen. Verstehst du das?"

"Klingt ja gewaltig. Wie groß ist die Milchstraße? "

Sie hat einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren. Wir leben ca. 26.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt. Die Milchstraße ist eine sogenannte Spiralgalaxie. Wenn du von oben raufsiehst, dann sieht sie spiralförmig aus, mit leuchtenden Armen."

"In den leuchtenden Armen sind die Sterne?"

"So als hätten sie ein feste Position auf der Scheibe? Nein, so einfach ist das nicht. Sieh mal: Sterne, die sich im massereichen Zentrum befinden müssen sich schneller um das Zentrum bewegen als Sterne, die weiter außen sind. So ist es ja auch mit unseren Planeten: je weiter außen sie sind, um so langsamer kreisen sie um die Sonne. Damit gleichen sich die Fliehkraft und die Anziehungskraft bei der Umrundung aus, d.h. der Planet verlässt weder die Umlaufbahn der Sonne noch stürtzt er hinein. So ist das also auch mit den Sternen, wenn sie um das Zentrum der Galaxie laufen."

"Gut, aber wo ist das Problem?"

"Das Problem ist: wenn du dir die Spirale von oben vorstellst, dann bewegen sich die Arme mit konstanter Winkelgeschwindigkeit. Das heißt aber, dass sich die Bereiche außen schneller bewegen als die, die innen sind. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was ich eben sagte."

Paulinchen nahm sich ein Blatt Papier und malte eine Spiralgalaxie. Dann sah sie ihre Mutter an und sagte: "Mama, du hast Recht. Aber wie geht das?"

"Es handelt sich bei den Spiralarmen wahrscheinlich um Zonen besonders verdichteter Materie. Wenn dort Gaswolken hineingeraten, dann zünden sie schneller. Das ist aber schwer anschaulich zu machen."

"Bewegt sich unser Sonnensystem auch um das Zentrum?"

"Ja das tut es. Mit 220 km pro Sekunde."

"Das ist ja unglaublich schnell. Wie lange brauchen wir denn für so eine Runde?"

"Das braucht schon etwas. Eine Runde dauert 240 Millionen Jahre. Das heißt also: das letzte Mal waren wir in der Trias dort wo wir jetzt sind. Damals entstanden gerade die Dinosaurier und die Erde war noch ein gewaltiger Superkontinent."

"Sag mal: ist es nicht ziemlich gefährlich, durch eine Galaxie mit so vielen Himmelskörpern zu rasen?"

"Das ist anzunehmen. Es hat ja auch mehrere Massenaussterben in der Erdgeschichte gegeben: am Ende des Ordoviziums, des Devons, des Perms, der Trias und der Kreidezeit. Möglicherweise stehen diese Ereignisse damit in Zusammenhang."

"Mama, was ist in der Mitte der Milchstraße?"

"Dort ist vermutlich ein gigantisches Schwarzes Loch."

"Was?"

"Wenn ein Stern, der 100 mal so viel Masse hat wie die Sonne, stirbt, dann hinterlässt er ein Schwarzes Loch. Das ist eine unvorstellbare Verdichtung von Materie. Die Gravitation eines Schwarzen Lochs ist so groß, dass noch nicht einmal das Licht entkommt. Daher ist es schwarz. Es kann nur durch seine Wirkung festgestellt werden. Alles, was dort hineinstürtzt ist für immer verschwunden. Ein Schwarzes Loch kann einen Stern langsam wie ein Staubsauger in sich einsaugen."

"Das klingt ja unheimlich. Und was ist wenn der Stern nur 10 mal so viel Masse hat wie die Sonne?"

"Dann explodiert der Stern in Form einer Supernova. Der Krebsnebel ist zum Beispiel eine solche Explosion. Eine Supernova wird schließlich zu einem Neutronenstern. Die Elektronen und Protonen verschmelzen dabei zu Neutronen. Da der Drehimpuls trotz des Kollaps erhalten bleibt und die Masse sich ins Zentrum verlagert, steigt die Rotationsfrequenz. Das ist dasselbe Prinzip wie bei einer Pirouette beim Eiskunstlauf. Wenn die Läuferin ihre Arme anzieht, dreht sie sich viel schneller. So funktioniert das auch bei einem Neutronenstern. Einige bringen es auf 700 Umdrehungen pro Sekunde."

"Das ist das Ergebnis der Supernova?"

"Ja, aber das ist noch nicht alles. Hat ein Stern seinen Wasserstoffvorrat verbraucht, fängt er an, schwerere Elemente auszubrüten: es ensteht Kohlenstoff und Sauerstoff. Das würde auch noch ein Stern von der Größe unserer Sonne schaffen. Aber dann wäre Schluss. Ein Stern, der genügend Masse hat und als Supernova explodiert erbrütet in weiteren Kernfusionsschritten noch Elemente wie Neon, Magnesium, Schwefel, Silizium und Eisen. Alles, was du hier auf dieser Erde siehst, jedes Atom aus dem du bestehst, ist aus derartigen Sternenexplosionen hervorgegangen. Der Tod der Sterne hat unser Leben hervorgebracht."

Paulinchen sah ihre Mutter an und dachte nach. Dann sagte sie:

"Du Mama, wenn du das nächste Mal weggehst, darf ich dann mitkommen?"

 


31.12.2006, Frank Ansari