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Heide

Wo der große Wind zu Hause ist,
Bäume biegt und Rosen küsst,
liegt ein Land unter Sonne und Wind,
liegt ein Land, das man niemals vergisst,
liegt ein Land unter Sonne und Wind,
liegt das Land, das man niemals vergisst.

 

Dieser Refrain ist aus einem Lied, in dem es um Dithmarschen geht, einem Gebiet an der Westküste Schleswig-Holsteins. Heide ist die Kreisstadt von Dithmarschen.

In diesem kurzen Bericht geht es nicht um Dithmarschen als Ganzes, auch nicht um Heide als Ganzes. Es geht lediglich um den südöstlichsten Zipfel von Heide, also das Gebiet, das von der Meldorfer Str., der Kreuzstr., Struckweg/Klaus-Harms-Str. und dem Erna-Weißenborn-Ring eingeschlossen wird.

Was fällt einem auf, wenn man diese Gegend mit dem Zustand vor zwanzig oder gar dreißig Jahren vergleicht? Ich habe am 12.07.2001 einen kleinen Rundgang gemacht und wollte mal sehen, welche Erinnerungen wach werden.

Ich startete in der Jahnstr., also nordwestlich des oben abgesteckten Bezirks. Da ist zunächst die Meldorfer Straße. Als Kinder mussten wir hier besonders vorsichtig sein, da es sich um eine frequentierte Bundesstraße handelt. Ich überquerte sie also und setzte meinen Marsch in Richtung Kaiser-Wilhelm-Platz fort. Auf der rechten Seite sieht man nun den Eingang zum HSV-Platz. Das große Schild "HSV", was früher hier stand, steht heute nicht mehr da.

Der Kaiser-Wilhelm-Platz. In meiner Kindheit standen hier unheimlich große Bäume. Da ich die Veränderungen hier schon bei einem früheren Besuch wahrgenommen hatte, beachtete ich diesen Platz nicht weiter und ging sofort auf die linke Seite der Beeseler Str. Wahnsinn! Die gelben Ziegel waren immer noch da. Wie in alten Zeiten. Die Praxis von Karin und Hauke Rees gibt es auch immer noch. Die gelben Ziegel werden dann von als Karo gesetzte große graue Ziegel abgelöst. Genau wie früher. Auch die Bäume stehen immer noch am Straßenrand. Rechts sieht man ein kirchliches Gemeindehaus. Nun geht es zur Kreuzstraße.

Die Kreuzstraße ist eine lange Straße. An der Kreuzung steht eine Ampel. 32 Jahre ist es nun her als meine Schwester nach einer Auseinandersetzung zwischen meiner Mutter und ihrer Schwester diese Straße im Alter von zwei Jahren allein überquerte. Für mich war das damals eine Heldentat. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie sie das geschafft hat und dachte, dass sie wohl besonders mutig sein muss (sie wurde schließlich von der Polizei "eingesammelt"). Wir bekamen damals Masken geschenkt. Ich bekam eine Tigermaske, sie eine Löwenmaske. Als sie von der Polizei gefragt wurde, wie sie heißt, antwortete sie: Löwe.

Nun wurde es richtig spannend. Die Johann-Hinrich-Fehrs-Straße, die Straße also, in der ich aufgewachsen war. Da der Boden in Richtung Süden abschüssig ist, ist hier eine Mauer aus roten Ziegeln gestuft. Genau wie vor dreißig Jahren. Nur die Drogerie gegenüber gibt es nicht mehr. Sie musste wohl einem Computerhändler Platz machen. Albers hieß der Drogist. Meine Schwester und ich haben damals bei ihm gerne Gummibärchen gekauft.

Der Blick die Straße hinunter erscheint unwirklich, fast wie ein Traum oder eine Zeitreise. Die Gegend wirkt unverändert, das heißt aber auch: unverändert ausgestorben. Man sieht keinen Menschen. Weder an einem Fenster noch auf der Straße ist irgendjemand zu sehen. Da hier weder hohe Häuser noch hohe Bäume vorhanden sind, kann man schon aus flachem Winkel den Himmel sehen. Mich ergriff plötzlich das Gefühl einer unglaublichen Freiheit. Als wenn man in eine andere Welt versetzt wird. Irgendwie ist die Vergangenheit wieder da, irgendwie aber auch nicht.

An der Ecke zur Theodor-Storm-Str. war früher ein Lebensmittelgeschäft namens V.I.V.O. Das muss nun wohl zu einem Gasthaus mutiert sein. Nun ja. Meine Oma erzählte mir, der frühere Besitzer hieße Steffensen und seie der Vater meines Geschichtslehrers. Jedenfalls war das der Grund warum sie immer Steffensen sagte, wenn sie V.I.V.O. meinte.

Nun bewegte ich mich Richtung Fehrsplatz, der Platz also, an dem wir gewohnt hatten. Zwei alte Damen unterhielten sich. Immerhin schien es noch Menschen hier zu geben. Ansonsten sah man niemanden. Abgesehen von dem sich immer mal wieder ändernden Bereichs zur Fehrsstr. hin sah der Fehrsplatz genauso aus wie ich ihn kannte, einschließlich der Häuser drum herum. Allerdings: die Häuserreihe, in der wir gewohnt hatten, hatte offenbar neue Fenster bekommen.

Dort wo früher mal eine Post war, war nun ein Laden. Ich sah mir also an, was hier verkauft wird. Moment: warum steht hier alles auf Russisch? Tja, meinte der Verkäufer, ob ich denn nicht wisse, dass hier jetzt Russen wohnen. Wie bitte, Russen? Ja, ja, "Klein-Moskau" erhielt ich zur Antwort. Das ganze Szenario erschien mir ohnehin wie ein Traum, aber das hier konnte nur ein Traum sein! Ich ging in den Laden. Kassetten. Alle auf Russisch beschriftet. Kopfschüttelnd verließ ich den Laden. Russen...

Johann-Hinrich-Fehrs-Str. 50. Hier haben wir gewohnt. Hmm... die Tür war früher aber nicht grün. Stotz steht dran, wo wir gewohnt haben. Klingt zumindest nicht russisch. Der Bürgersteig hat sich verändert. Die Steine waren früher rechteckig, heute haben sie eine etwas andere Form. Aber immerhin: sie sind auch heute noch klein und rot. Irgendwann muss der Belag erneuert worden sein. Als Kind fuhr ich hier Kett-Car. Ein Blick in den Keller. Tatsächlich! Genau wie damals! Der alte Fahrradkeller. Ich ging den Gang entlang, wo meine Großeltern ihren Keller hatten.

Nach dem Keller wollte ich mir den Garten anschauen. An der Seite des Hauses stand früher ein Busch. Etwa in der Mitte war auf dem Boden ein Stein, den ich benutzte, um mein Fahrrad abzustellen. Der Stein gab der Stütze Halt, und der Busch versteckte das Fahrrad etwas, sodass man es nicht gleich von der Straße aus sah. Der Busch war nicht mehr da. Aber das Schlimmste kam jetzt: die Gärten sind einer grünen Wiese gewichen! Unglaublich! Damals hatte jeder hier seinen Garten. Der Garten meiner Großeltern war hinten rechts. In der Mitte führte ein Steg entlang, an dem Oma bei schönem Wetter die Wäsche trocknete. Bei schlechtem Wetter nutzte sie den Dachboden. Unser Garten hatte im hinteren Bereich eine kleine Wiese. Der vordere und der hintere Bereich waren durch einen Johannesbeerstrauch getrennt. Als äußere Begrenzung dienten Stachelbeersträucher. Oma, Opa und wir Kinder gingen dann in den Garten und ernteten die Stachelbeeren. In der Mitte hatte Oma Erdbeeren geplanzt, an der vorderen Seite Himbeeren. Oma hat regelmäßig im Garten gearbeitet. Statt all diese Dinge nun eine Einheitswiese vorzufinden, war für mich ein echter Schock. Einen Moment lang wüschte ich, ich wäre nicht hier hergekommen.

Immerhin: die beiden riesigen Bäume auf der gegenüberliegenden Seite waren noch vorhanden. Allerdings: die bunten Balkone waren weg. Nein, sie waren nicht weg, aber eben nicht mehr bunt. Mit diesen Balkonen verbinde ich immer noch ein Erlebnis. Oma wollte mir Tag und Nacht in Abhägigkeit vom Ort erklären. Sie sagte zu mir: "Wenn bei uns Tag ist, dann ist bei anderen Leuten Nacht." Ich guckte zu den bunten Balkonen gegenüber. Ich war einfach sprachlos. Komisch, dachte ich. Zumindest aus unserer Wohnung sieht es so aus, als wenn bei anderen Leuten auch Tag ist.

Ich verließ den Garten und steuerte ein anderes Ziel an: die Gustav-Frenssen-Str. Sie liegt parallel zur Fehrsstr. (östlich). Ich ging dazu die Fehrstr. entlang. In der Mitte ist ein Durchgang, der zur Gustav-Frenssen-Str. führt. Es gab ihn immer noch. Aber irgendetwas hat sich auch hier verändert. Aha: ein Hinterhaus! Und ein Auto im Garten. Ein Arbeitskollege sagte mal: "Wenn man den Deutschen das Autofahren verbieten würde, dann würden sie sich bestimmt ein Auto in den Garten stellen." Ich ging weiter zur Gustav-Frenssen-Str. Der Blick diese Straße hinunter erweist sich als ähnlich emotionsgeladen wie der Blick die Fehrsstr. hinunter. Ich sah dann eine Seitenstraße, die Hermann-Löns-Str. Ich hatte vorher oft in Gedanken versucht zu rekonstruieren, was um alles in der Welt in dieser Straße ist. Sie erschien mir wie ein "schwarzes Loch", ich wusste es wirklich nicht. Bin ich jemals hier lang gegangen? Also musste ich jetzt hier lang. Ich konnte mich wirklich nicht erinnern, jemals hier bewusst lang gegangen zu sein. Ich kam dann zur Klaus-Harms-Str.

Viele meiner Schulkameraden aus der Grundschule wohnten in dieser Straße. Ich fragte mich, was wohl an dieser Straße so toll ist, dass alle Kinder dort wohnen. Ich fühlte mich fast wie ein Außenseiter, nicht dort zu wohnen. War die Straße früher auch schon so lang? Schließlich kam ich zum Westermoorweg.

Von hier aus bog ich in die Fritz-Reuter-Str. ein, denn eines wollte ich auf jeden Fall: auf den Spielplatz! Wie oft sind wir als Kinder dort gewesen. Auch hier fand ich Veränderungen vor, die bereits in meiner Jugendzeit vorgenommen wurden. Aber irgendetwas war anders. Früher war der Spielplatz im wesentlichen zweigeteilt: der eigentliche Kinderspielplatz, mit Sandkasten, Schaukel, usw. und parallel dazu ein Fußballplatz. Auf diesen Anblick musste ich dann leider doch verzichten. Auch die Böschung war irgendwie verändert. Was ich unbedingt sehen wollte war der reizvolle Anblick einer in der Ferne halbsichtbaren Hochspannungsleitung und einer weit abgelegenen Eisenbahnlinie. Die Sicht muss irgendwie stärker verdeckt gewesen sein als früher -- erst nach einigem Suchen sah ich in der Ferne ein kleines Stückchen einer Hochspannungsleitung. So eine Hochspannungsleitung drückt für mich ein Stück Heimat aus: in der Großstadt sehe ich soetwas nie. Abgesehen davon schafft sie ein Stück reale Distanz zwischen mir und sich selbst und erzeugt somit den Eindruck eines großen Raumes -- die Distanz zum Himmel ist ja im Gegensatz dazu keine nachvollziehbare Entfernung. Eine nur teilweise sichtbare Hochspannungsleitung und eine zwischen Bäumen teilweise sichtbare Eisenbahnlinie: das war ein echtes Panorama. Offensichtlich wurde es durch einen Übergang zur Klaus-Harms-Str. ersetzt. Jedenfalls habe ich den Verdacht, dass es früher weder diesen Übergang, noch das Stück der Klaus-Harms-Str., das zum Erna-Weißenborn-Ring führt gab, noch den Erna-Weißenborn-Ring selbst.

Auf zum Erna-Weißenborn-Ring. An der Ecke Klaus-Harms-Str. / Erna-Weißenborn-Ring ist ein Bahnübergang. Den gab es auch schon früher, allerdings habe ich wesentlich mehr Gebüsch und Bäume in Erinnerung. Auch hier fiel mir wieder etwas ein. Wenn ich irgendetwas nach Hause brachte, was Krach machte (eine Tröte oder so), dann sagte meine Oma immer, ich könne ja damit hinter die Hemmer Bahn gehen. Da sie unseren Bahnhof damit kaum meinen konnte, musste sie wohl diesen Bahnübergang meinen. Was käme sonst wohl in Frage? Erst als Jugendlicher bekam ich irgendwann einmal mit, dass Hemme ein Ort nördlich von Heide ist.

Ich überquerte also diesen Bahnübergang. Dahinter lag eine Autobahn oder zumindest eine große Straße. Das muss neu sein. Und das Schärfste: haufenweise Hochspannungsleitungen. Naja, in dieser Konzentration eher eine Verunstaltung der Landschaft als ein Panorama. Manche Leute müssen es eben immer gleich übertreiben.

Also zurück zum Westermoorweg. Ich kam dann wieder zur Gustav-Frenssen-Str. Tatsächlich: an der Ecke Gustav-Frenssen-Str. / Westermoorweg steht immer noch das Schild, auf dem - falsch - Gustav-Frenßen-Str. steht. Ich ging die Straße entlang und steuerte die Arnold-Ebel-Straße an. Hier wohnte früher Charlotte Trunk, eine Frau, die mit uns Schularbeiten gemacht hat. An der Klingel stand sie nicht dran. Das wäre aber auch nicht untypisch für sie. Aber dafür stand ihr Name immer noch am Briefkasten. Wenn man also bei ihr klingeln will, muss man auf die einzige anonyme Klingel drücken. Eigentlich recht logisch. Problematisch wird es nur, wenn mehrere Mieter dieses Verfahren anwenden wollen.

Zurück zum Fehrsplatz. Von dort bog ich in den Heimweg ein. Ein letzter Blick auf den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Hier hat Oma mir Pfingsten 1985 zugewunken, als ich mit meinem Fahrrad wegfuhr. Es sollte das letzte Mal sein. Vermutlich gibt es keine einzelne Person, die so tief in meinem Unterbewusstsein verankert ist wie diese Frau.

Der Heimweg. Rechts war früher ein Bäcker. Die Bäcker wechselten manchmal (ich erinnere mich noch an Bäcker Sass), aber zumindest blieb eins gleich: es war immer ein Bäcker hier. Jetzt wurde ein Wohnhaus daraus. Nun ja. Auch der Park daneben war verschwunden. Auch so ein Haus. Im Park stand damals eine Lärche, die ich als Kind natürlich erklimmen musste. Gegenüber stand unverändet die Auferstehungskirche auf einem kleinen Hügel. Wenn man direkt unter einem Kirchturm steht, dann macht das schon ganz schön Eindruck, besonders als Kind.

In der Timm-Kröger-Str. war nach wie vor das Altersheim. Die Straße ist eigentlich eine Sackgasse, nicht jedoch für Radfahrer. Es war früher sogar meine bevorzugte Strecke, wenn ich von der Jahnstr. in die Fehrsstr. fuhr. Allerdings hatte die Strecke auch ihre Tücken: der anschließenden Rad/Fußweg war oft von Glassplittern übersät. Am Ende der Timm-Kröger-Str. stand unverändert "eine Etage höher" das gelbe Haus. Ich bog in den Radweg ein. Im hinteren Teil wurde schon immer der Bereich rechts und links industriell genutzt. Der linke Bereich liegt wie gesagt höher. Früher war das Geländer offen. Ein weißer Hund mit schwarzen Flecken war auf diesem Gelände offenbar zu Hause. Mein Opa gab ihm braune Bonbons zu fressen. Der Hund wedelte dann mit dem Schwanz.

Das Geländer war mit Wellblech abgedichtet. Diesen Hund gibt es heute ebensowenig in Heide wie meinen Großvater.

 


Berlin, den 16.07.2001 Frank Ansari